Einander verstehen

Warum gibt ein höflicher Muslim einer Frau nicht die Hand? (Oder auch umgekehrt)

Immer wieder bringen westliche Menschen ihr Befremden gegenüber der Gepflogenheit von Muslimen zum Ausdruck, wenn diese Frauen oder Männern nicht die Hand zu geben wünschen. Um dieses Verhalten zu verstehen sollte man einige Dinge wissen:

1.) Wörtliche Begründung — aus dem östlichen Kulturkreis

Einige islamische Rechtsschulen (z.B. die Hanafiten, die sich nach Imam Shafi‘i richten) bestimmen, dass die rituelle Reinheit (jener Zustand nach der rituellen Waschung, in welchem man das islamische Pflichtgebet zu verrichten hat) nach der Berührung mit einer Person des anderen Geschlechts aufgehoben wird. Die Handberührung zwischen Männern und Frauen wird also mit alten traditionellen Vorstellungen als erotisierend oder sogar sexualisierend interpretiert.

Das zeugt einmal für den/die Betreffenden selbst von besonderer Glaubenstreue, aber nicht davon, dass das andere Geschlecht verachtet würde, wie wir es aus unserem westlichen Kulturempfinden sofort interpretieren würden, sondern im Gegenteil, es zeugt gerade von besonderer Hochachtung und Respekt gegenüber dem anderen Geschlecht.

Ich erinnere an die Geschichte unsere eigene Kultur:

In früherer Zeiten, in der man weniger freizügig in Wort und Tat in der Öffentlichkeit miteinander umging, stand das Wort „eine Frau berühren“, für … „mit einer Frau Geschlechtsverkehr pflegen“. Es gibt in der Bibel dafür auch den Ausdruck in der Schöpfungsgeschichte „und Adam erkannte seine Frau“. Etwa gleiches bedeutet der Ausdruck: „eine Frau (in Lust) ansehen“, wie in Matthäus 5 Vers 28 bezüglich des Ehebruches berichtet wird.

2.) Überlieferung: Woher kommt die Tradition?

Im Koran findet sich diese Regel nicht. Sie wird in der Überlieferung aus dem Leben des Propheten Mohammed berichtet.

Während seiner Reisen zur Pilgerzeit zu arabischen Stämmen wurden Versprechen zwischen dem Propheten und den Männern mit Handschlag bekräftigt, „den Frauen aber pflegte der Prophet nicht die Hand zu geben. Sie konnten ihr Versprechen mündlich zusagen.“

In einer Neuausgabe „Die Geschichte der Propheten2“ ist diese Episode nicht aufgenommen, weil man Volkserzählungen möglichst vermeiden möchte, wie es im Vorwort heißt.

Nicht nur verschiedene Rechtsschulen, sondern auch Theologen in der hanafitischen Rechtsschule bewerten diese Episode also unterschiedlich.

Auch in unserer westlichen Kultur werden Gebote und Verbote beim sittlichen Verhalten von Jungen und Mädchen sehr unterschiedlich praktiziert.

Gab es bei uns in den 50/60er Jahren an einzelnen Tagen in Schwimmbädern noch das „Damenbad“, werden heute in Deutschland und Nordeuropa die Sitten wesentlich großzügiger und freier gelebt. Dagegen sind die Sitten in Südeuropa und in den USA wesentlich strenger und auch repressiver.

3.) Kultur — Tradition und Sozialpsychologie

Die bisher erläuterten Zusammenhänge hatten und haben bei einigen Frommen, - allerdings nicht bei allen Muslimen - bis heute zur Folge, dass in der Tradition die Erziehung zur Schamhaftigkeit zwischen den Geschlechtern hoch angesetzt wird. Die Schamgrenze liegt bei Jungen und Mädchen, bei Männern und Frauen in der muslimischen Kultur wesentlich höher als bei uns.

Wie erlebe ich diese Traditionen?

Der Imam Abdusselam Özdere in der Kasernenstraße hat mir immer die Hand bei Begrüßungen oder Verabschiedungen gegeben. Ein anderer gibt sie mir zwar nicht, legt aber stattdessen seine Hand auf sein Herz und begrüßt mich lächelnd. Wir nicken uns also bei der Begrüßung freundlich zu.

Und was folgt aus alldem für uns im Umgang mit Muslimen?

Ich halte meine Spontanität bei Erstbegegnungen etwas in Zaum, erlebe, wie das Gegenüber reagiert, respektiere das Verhalten und richte mich danach.

 

Doris Schulz
(Vorstand des Christlich-Islamischen Gesprächskreises Solingen)